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Eintauchen in die Präsenz des Waldes
Erschienen als Beitrag im Wildpflanzenmagazin, September 2018, von A. Wichterich

Andrea Wichterich möchte zu einer tieferen Verbindung mit der Natur, zu einem echten Dialog mit der Landschaft und ihren Pflanzenwesen einladen – mithilfe von Waldyoga.

Es gibt etwas, das uns verbindet. Sicherlich ist da noch sehr viel mehr, doch vor allem verbindet uns, die wir dieses Magazin lesen und gestalten, wohl unsere Liebe zu den Pflanzen. Wir teilen die Freude der Begegnung mit den Pflanzenwesen, die Lust daran, durch Wald und Wiesen zu streifen und – ganz in der Tradition unserer Ahninnen – Kräuter und Wildfrüchte zu sammeln. Vielleicht teilen wir auch dieses wundervolle befriedigende Gefühl, die Dankbarkeit dafür, dass die Natur uns alles schenkt, dass sie uns nährt – auch dann, wenn die Decke des Supermarktes einstürzen sollte und Großkonzerne uns anderes weismachen wollen. Mit Freude tragen wir die grünen Schätze nach Hause und bereiten sie zu – zu delikaten Speisen, zu Tinkturen, Salben, Tees und mehr.

Vielleicht vergessen wir es manchmal, vielleicht dringt es immer mal wieder in unser Bewusstsein, was wir den Pflanzen alles verdanken. Nicht umsonst werden sie im ältesten indogermanischen Schriftstück, der Rigveda, als „Urmütter“ angerufen, denn sie waren schon so lange vor uns da und ebneten uns – Müttern gleich – den Weg ins Leben. Sie schenken uns eine Atmosphäre, in der wir atmen können und ermöglichen uns so, überhaupt erst in Erscheinung zu treten. Immer schon war und ist unser Leben aufs engste mit den Pflanzen, hier in unserem Kulturkreis besonders mit dem Wald, verbunden. Seit wir zu Menschen wurden (und davor zum Teil auch schon), lieferten uns die Pflanzen Nahrung, Heilmittel, Material für Kleidung und Behausungen, Brennmaterial und mehr.


Heilender Aufenthalt im Wald

Heute wird zudem wissenschaftlich erforscht, was wir vielleicht schon lange tief empfinden: Allein ein Aufenthalt im Wald kann zutiefst heilsam für uns sein. Ob wir nun Kräuter sammeln, dort joggen gehen, spazieren oder einfach nur an einem Baum sitzen und ins Grün schauen – dies ist von großem Wert für unsere Gesundheit. Irgendwie fühlen wir uns danach besser, entspannter. Positiven Einfluss übt das Sein im Wald vor allem auf Faktoren unseres Immunsystems, Nervensystems und Hormonsystems aus, die für die Entstehung so genannter Zivilisationskrankheiten zuständig sind.
Und so wird heute der Aufenthalt im Wald z.B. zur Stärkung des Immunsystems, in der unterstützenden Krebstherapie, zur Behandlung von Burnout, Bluthochdruck, psychosomatischen und psychischen Erkrankungen etc. empfohlen. Die Waldtherapie und das Waldbaden (in Japan bereits seit den 1980er Jahren anerkannte Therapie) boomt derzeit – und das zu Recht.
In der Forschung fehlt jedoch der logische Umkehrschluss: Könnte es sein, dass die Entstehung all dieser Erkrankungen ein Resultat unserer Entfremdung ist? Wenn der Aufenthalt im Wald uns heilt – könnte es sein, dass wir gar nicht erst in diesen Ausmaßen krank werden würden, wenn wir den Wald nicht verlassen hätten, der uns einst Heimat war? Der teilweise legendär gewordene Gesundheitszustand und das durchschnittlich hohe Lebensalter manch indigener Kulturen (z.B. der Hunza im Norden Pakistans), die in ihrer traditionellen Lebensweise leben können, untermauert diese Hypothese.


Nährendes Grün für Körper, Auge und Seele

Der Wald steht hier auch als Synonym für ein Leben im Einklang mit der Natur. Wir müssen nicht wieder auf Bäumen leben, können die Zeit nicht zurückdrehen, doch wir können uns erinnern, dass auch wir Natur sind. In meiner Heilpraxis sehe ich in der Entfremdung von der Natur nicht selten die „Krankheit hinter den Krankheiten“ - sowohl individuell als auch kollektiv. Wie könnten wir die Erde und ihre Ressourcen in solch einem Stil ausbeuten, uns wie Krebsgeschwüre in die Wälder fressen und nichts als Vernichtung hinterlassen, wenn wir fühlen würden, dass dies unsere Lebensgrundlage ist, wie tief wir verbunden sind.
Und so, wie wir den Erdenkörper ausbeuten, betreiben wir nicht selten Raubbau an unserem individuellen Körper und belasten ihn in einem nie dagewesenen Ausmaß mit Giftstoffen. Wenn wir viele grüne Pflanzen, unsere Urnahrung, zu uns nehmen, tun wir schon eine Menge dafür, diese Giftstoffe regelmäßig auch wieder auszuleiten und den Körper zudem mit essentiellen Mikronährstoffen zu versorgen, die in kultiviertem Gemüse und erst recht in Fertignahrung fehlen.
Gehen wir also weiter fleißig in die Wälder, atmen wir tief die Atmosphäre des Waldes in unsere Lungen ein (einschließlich der Terpene, die die Bäume abgeben), streifen wir durch wilde Wiesen und sammeln wir Heil- und Nahrungspflanzen! Freuen wir uns angesichts der Fülle, an der wir hier teilhaben dürfen, angesichts des Grüns, welches unser Auge und unsere Seele nährt! Dazu möchte ich in meiner Seminartätigkeit und Heilpraxis einladen – und ganz besonders auch in meinem neuen Buch.

 

Wald-Yoga: Verbundenheit zur Natur wieder wahrnehmen

Jede wirkliche Beziehung ist wechselseitig. Uns unserer Beziehung mit den Pflanzen gewahr zu werden, geht weit darüber hinaus, sie konsumieren zu wollen – so verlockend das auch erscheinen mag – bietet uns der Wald doch so Vieles: Erholung, Entschleunigung, Prävention, Regeneration und Heilung; er dient uns als Apotheke, als Supermarkt, in dem es hochwertige Heil- und Nahrungsmittel in Hülle und Fülle gibt – und das auch noch (scheinbar) kostenlos. Oft haben wir es ja auch nicht anders gelernt, als überall den größtmöglichen „Gewinn“ für uns herausholen zu wollen. Doch unsere Konsumhaltung entspringt der scheinbaren Trennung von der Natur. Hier bin ich, vermeintlich zivilisierter Mensch, und da draußen ist die Natur – die uns als Wildpflanzenfreunde zumindest mit ihrer wilden Schönheit keine Angst macht und die wir uns auch von Fuchsbandwürmern und anderen Widrigkeiten nicht davon abhalten lassen, weiterhin Pflanzen und Beeren zu sammeln, Wurzeln zu graben, unseren Körper und unsere Seelen zu nähren.
Doch was, wenn wir wirklich erkennen, dass auch wir Natur sind, dass wir eben nicht getrennt sind, sondern eins sind mit allem und jedem? Möglicherweise erinnern wir uns an mystische Naturerfahrungen – oft aus der Kindheit – in denen wir dies zutiefst empfunden haben. Es geht hier nicht um eine esoterische Theorie, sondern um eine tief erfahrbare Wirklichkeit. Wie würde unsere Erde und unser Leben aussehen, wenn wir diese Verbundenheit tatsächlich wahrnehmen würden und wenn unsere Art zu leben ein Ausdruck eben jener Verbundenheit wäre?
Übungen aus dem Wald-Yoga helfen uns, wieder Zugang zu diesem Empfinden zu bekommen und den eigenen Körper tiefer zu erfahren. Wenn wir anwesend sind im Körper (statt uns in Gedankenwelten zu verlieren), dann erwachen auch unsere Sinne zu einer feineren Wahrnehmung. Diese wird vertieft in Wahrnehmungsübungen, z.B. in der Begegnung mit den Wesensqualitäten von Pflanzen. In dieser Präsenz fühlen wir die Verantwortung, unsere „Fähigkeit zu antworten“ (vgl. engl. Response-ability), aus der heraus wir Natur-Rituale gestalten. Die Pflanzen schenken uns so Vieles, da können wir noch eine ganze Menge von ihnen lernen.

Ich freue mich wie immer über den Austausch und Anregungen zum Thema und wünsche Ihnen viel Freude dabei, in die Präsenz des Waldes einzutauchen.