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Heilung im Jetzt: Yoga als Therapie
Erschienen im INFOMED-Buch: Ganzheitsmedizin: Die Ganzheitlichkeit von Gesundheit und Heilung, 2015, von A. Wichterich

Was könnte geschehen, wenn du plötzlich inne hältst und still wirst? Was, wenn du realisierst, dass es das vermeintliche Morgen, für das du dich so engagierst, Jetzt gar nicht gibt? Was, wenn du beginnst, deinem Körper zuzuhören? Was, wenn du bedingungslos anwesend bist – mit allem, was ist?

Diese und andere Fragen in mir bewegend, machte ich mich einst – in einem anderen Jetzt – auf den Weg nach Indien.
Damals wusste ich noch nicht, dass es sich anfühlen würde wie Nach-Hause-Kommen – bereits in dem Moment, als ich beim Verlassen des Fliegers jene unverwechselbare Mischung aus Räucherstäbchen, verbranntem Müll, Autoabgasen und – ja, was eigentlich noch? - tief in meine Lungen einsog, während meine Ohren in der Kakophonie aus Autohupen, Krähengeschrei und Glöckchengebimmel, in religiösen Gesängen aus völlig übersteuerten Boxen das Lied der Stille vernahmen.

Damals wusste ich auch nicht, dass noch einige Reisen nach Indien und Nepal folgen sollten. Auf diesen Reisen vertiefte ich mein Wissen um Yoga, jene uralte Wissenschaft des Bewusstseins.

Das Wort Yoga leitet sich her vom indogermanischen Wortstamm „yuj“, was soviel wie „vereinigen, verbinden“ bedeutet. Auch unser deutsches Wort „Joch“ geht auf diesen Wortstamm zurück.
Ziel von Yoga ist das spirituelle Erwachen (wenn man das so sagen kann), die Vereinigung des individuellen Selbst mit dem göttlichen Selbst oder die „Selbstrealisation“.
Yoga meint im Grunde auch „Wiedererkennen“: Der Sadhaka erkennt, dass er niemals getrennt war, sondern eins ist mit allem. Die Praxis von Yoga ist nicht an eine Religion gebunden, und sie sucht das Göttliche nicht im Außen, sondern im Selbst – zugleich verhilft sie zu der Erkenntnis, dass alles Göttlich ist.

„ „Yoga“ ist die Erfahrung der Einheit mit deinem ganzen inneren Sein. Diese Einheit stellt sich in dem Moment ein, wenn sich die Dualität von Bewusstsein und Materie in die höchste Wirklichkeit aufgelöst hat.“ (Saraswati, Satyananda S.14; Brombachtal 1997).

In Yoga sind die Trübungen des Geistes aufgelöst, und das Selbst ruht in der Erkenntnis seiner wahren Natur. (Vgl. Patanjali, Samadhi Padha, 2. und 3. Sutra)

 Als Heilpraktikerin interessiere ich mich ganz besonders für die therapeutischen Möglichkeiten, die Yoga gerade den Menschen der heutigen Zeit bietet, wobei ich hier, wie ich noch darlegen werde, den Therapiebegriff ein wenig weiter fassen werde als dies allgemein üblich ist.

 
Das Heimatland von Yoga ist Indien.

Hier hatte, geprägt von den Zeiten Gautama Buddhas (vermutlich zwischen dem 2. Jh. v. Chr. Und dem 4. Jh. n.Chr.) der Weise Patanjali gelebt, der „Vater“ des Yoga. In seinen vier Büchern mit Lehrsätzen hat er uns eine Landkarte des spirituellen Erwachens hinterlassen, die bis heute das Fundament der verschiedenen Yogarichtungen bildet. Diese beschreibt er in seinem zweiten und dritten Buch in 8 Stufen (auch als Ashtanga Yoga oder Raja Yoga bekannt):

  1. Yama: Hier handelt es sich um Verhaltensprinzipien unserer Mitwelt gegenüber, wie z.B. Gewaltlosigkeit und Wahrhaftigkeit.

  2. Niyama beschreibt Richtlinien für unser persönliches Verhalten, eine „Ökologie nach innen“ und umfasst z.B. Zufriedenheit und Reinheit.

  3. Asana: Dies sind jene Körperhaltungen, die die meisten Menschen vor Augen haben, wenn von „Yoga“ die Rede ist. Sie harmonisieren unseren physischen Körper.

  4. Pranayama: „Prana“ bedeutet „Lebensenergie“, welche wir in diesen Atemübungen aufnehmen und lenken. Indem wir Kontakt zu Pranaquellen in und um uns aufnehmen, erreichen wir eine Entspannung von Sinnen, Emotionen und Geist.

  5. Pratyahara bedeutet das „Zurückziehen der Sinne“, wobei diese nicht unterdrückt, sondern weise gelenkt werden.

  6. Dharana bedeutet „Konzentration“, die Ausrichtung unserer gesamten mentalen Energie auf einen Fokus.

  7. Dhyana heißt „Meditation“ und meint unsere Kapazität, unsere Präsenz ohne Störung zu halten.

  8. Samadhi oder „Erleuchtung“ beschreibt das Ziel von Yoga, die Verschmelzung mit unserer göttlichen Natur.

 

Patanjali hat die Methoden, die er beschreibt, natürlich nicht erfunden - der Ursprung von Yoga verschwindet im Dunkel der Zeiten, liegt aber mindestens ein paar tausend Jahre zurück. Bereits in archäologischen Ausgrabungen der Ruinen der vor-vedischen Kultur im Industal (heute Pakistan) fanden sich Statuetten von Shiva und seiner Frau Parvati in Yoga-Asanas. Yoga wurzelt im Tantra (vgl. Saraswati, Satyananda 1997, S. 18/19). Patanjali hat das alte tantrische Wissen jedoch in einer unvergleichlichen Prägnanz gebündelt und nieder geschrieben, die Methoden von Elementen komplexer, magischer Rituale befreit und sie auf diese Weise einem jeden zugänglich gemacht.

 

Nun möchte ich den Leser einladen, mich auf einer Reise nach Indien zu begleiten.

Nach einer durchwachten Nacht landet mein Flieger pünktlich in Delhi. Etwas schlaftrunken gehe ich zum Pre-Paid-Taxistand in der Erwartung, über den hier zu bezahlenden Festpreis zu vermeiden, um mein Geld betrogen zu werden. Einen Tausender schiebe ich über den Tresen und warte auf mein Wechselgeld (fünfhundert kostet die Fahrt). Der Herr am Schalter behauptet, ich hätte ihm nur hundert Rupees gegeben, vierhundert stünden noch aus. Eine wilde Diskussion entsteht; ich empöre mich mit wilden Gesten, ich lasse mich doch hier nicht über den Tisch ziehen - bis ich plötzlich innehalte und mir wie von außen bei diesem Theater zusehe. Ich muss über mich schmunzeln: Wie konnte ich glauben, ich könne fast schlafwandelnd in Indien zu landen? JETZT bin ich hellwach und vollkommen anwesend. Ich betrachte die Situation als „Reminder“: Die Praxis von Yoga endet nicht beim Verlassen der Matte; Yoga bedeutet, anwesend zu sein – in jedem Moment.

Mehr als jedes andere Land, das ich bislang bereist habe, fordert Indien diese Anwesenheit von mir. Ich zahle die geforderten vierhundert Rupees und betrachte sie als Lehrgeld.

Meine Müdigkeit ist jedenfalls verflogen und ich wehre unterwegs erfolgreich diverse Versuche des Taxifahrers ab, mich in irgendwelche Reisebüros zu bringen, die mir Trips nach Srinagar und sonst wo hin aufschwatzen wollen. Ich bestehe darauf, zum mir gesetzten Ziel gebracht zu werden.

Während der Fahrt habe ich Worte meines Yogalehrers im Ohr – ich will ihn hier Swamiji nennen: Als mich während der morgendlichen Meditation wieder und wieder der Schlaf übermannte und mein Kopf zur Brust sackte, hatte er gesagt, die Müdigkeit sei nur eine Idee. Damals habe ich mit dieser Aussage gehadert und rebelliert – ohne sie wirklich zu verstehen - heute danke ich ihm für die Erkenntnis, wie vielfältig und sinnlos die Widerstände sind, die ich dem gegenwärtigen Moment entgegen setze. Was ich mir alles an Ausreden einfallen lasse, um eben nicht anwesend zu sein!

 Doch wann geschieht das Leben, wenn nicht JETZT? In diesem ersten Wort des ersten Sutras des Patanjali ist im Grunde bereits die gesamte Weisheit des Yoga enthalten: Athá! - Jetzt!

Ich bin froh Delhi bald den Rücken zu kehren, und meine Reise führt mich nun nach Haridwar, das „Tor Gottes“ („dwar“ sanskr. f. „Tor; „Hari“ sanskr. f. „Gott“). Diese heilige Stadt liegt direkt am Ganges, von den Indern liebevoll Ganga genannt. Hier findet sich einer der vier Flußübergänge, die das Zentrum von Kumbh Mela bilden, einem großen, hinduistischen Fest, welches hier alle 12 Jahre abgehalten wird und jeweils Millionen von Pilgern anzieht.

Die Ganga wird als heiliger Fluss verehrt, der der Haarlocke des Gottes Shiva entspringt. Shiva wird ebenso als „der erste Yogi“, als auch als „Vater der Schamanen (Jhankris)“ verehrt. Ganga wiederum ist seine Geliebte, eine Manifestation der Göttin.

Auch außerhalb der besonderen Festivitäten zieht diese Stadt viele Pilger an, die für ein rituelles Bad im heiligen Fluss herkommen. Die Hauptbadestelle, Har-Ki-Pairi-Ghat, ist jedoch Hindus vorbehalten.

Des Getummels in den Gassen müde und in einer der zahlreichen Garküchen aufs Beste gesättigt, zieht es mich über die Lalita-Rao-Brücke hinüber zum anderen Ufer. Dort geht es etwas beschaulicher zu, und ich lasse mich treiben. Entlang der Ghats kampieren Sadhus, deren Weg sie auf ihrer Pilgerreise nach Haridwar geführt hat.

Sadhus sind Männer (und auch Frauen), die ihr weltliches Leben zurück gelassen haben. Die Gründe hierfür können ganz unterschiedlich sein, und nicht jeder Sadhu ist gleich ein Heiliger.

Ein Sadhu erzählte mir, dass er bei dem schweren Erdbeben in Gujarat seine ganze Familie, sowie Hab und Gut verloren hätte und somit keine andere Wahl hätte, als das Leben eines Sadhus zu leben. Ein anderer, junger Sadhu hatte einfach keine Lust, das Leben zu leben, welches seine Eltern für ihn ausgewählt hatten (inklusive einer arrangierten Ehe mit einer ihm unbekannten Frau), sondern wollte Abenteuer erleben. Manche Sadhus sind sogar ehemalige Verbrecher, die nun als Wandermönche Buße tun und so ihrer Strafe entgehen.

Doch viele Sadhus reiferen Alters kehren ganz bewusst ihrem bisherigen Leben in Familie und Beruf den Rücken, um sich ganz auf ihren spirituellen Weg, die Realisation ihrer Göttlichkeit oder Samadhi, zu konzentrieren.

Im tiefen Gewahrsein, dass wir all das nicht sind, worüber wir Menschen uns in dieser Welt definieren (Beruf, Familie, Status, Kaste...) lassen sie all dies zurück, sogar ihren Namen. Auch der Körper gibt unserer Seele nur vorübergehend ein Zuhause in dieser Welt. In ständiger Erinnerung an dessen Vergänglichkeit reiben manche Sadhu-Gruppen (z.B. die Naga Babas oder Aghori) ihre Körper mit der Asche Verstorbener ein und üben sich in verschiedenen Praktiken der Askese sowie extremen Techniken von Yoga und Meditation.

Den Körper und dessen Eindrücke zu transzendieren, bedeutet nicht, den Körper zu verneinen, wie Swamiji mich erfahren ließ. Der Körper kann uns als „Tor“ in diesen Moment dienen; in der Praxis des Yoga nutzen wir die Form, um der Formlosigkeit gewahr zu werden.

Viele Sadhus sind Yogis – wobei natürlich nicht jeder Yogi auch ein Sadhu ist.

Yoga ist für alle Menschen offen als Weg und bedarf nicht des Rückzugs und der Askese. Gerade, wenn wir mitten im Leben stehen in einer modernen Welt voller Herausforderungen und Reizen kann Yoga uns darin unterstützen in der Balance zu bleiben bzw. diese wieder herzustellen.

Hier, am Ufer der Ganga in Haridwar tragen die vielen anwesenden Sadhus in meinem Empfinden zu einer ganz besonderen „Dichte“ der spirituellen Atmosphäre dieses Ortes bei.

Ein paar Naga Babas laden mich ein, mich zu ihnen zu setzen und ein Chillum mit ihnen zu rauchen. Die erste der Einladungen nehme ich gerne an, die zweite lehne ich dankend ab.

Die Naga Babas gehören zu einer Sadhu-Gruppierung, die Shiva in Gestalt des Bhairav verehrt. Marihuana gilt als dessen bevorzugtes Kraut und findet in vielen Shiva-Kulten reichlich Verwendung.

Mit Händen, Füßen und ein paar Brocken Englisch versuchen wir, über den Weg in die Freiheit, zu Samadhi zu reden oder auch die Vereinigung mit Shiva, die das spirituelle Ziel der Babas darstellt. Shiva verkörpert für sie wie auch in den alten yogischen Schriften das höchste Bewusstsein. Die Vereinigung des individuellen mit dem höchsten Bewusstsein ist das Ziel von Yoga.

Inzwischen sammelt sich eine mittelgroße Menschenmenge um uns herum.

Während ich versuche, jenseits der Sprachbarrieren ganz in die ineinanderfließenden Momente unserer interkulturellen Begegnung einzutauchen, werden diese nun auch auf zahlreichen Speicherkarten von Handy-Kameras verewigt.

Die hier versammelten Babas (= Vater, wie Sadhus auch ehrfürchtig genannt werden) sind sich einig, dass der Konsum von Charas (=Cannabis), den einzigen Weg zu Shiva darstelle (wobei letzterer ihnen auch deutlich anzumerken ist, was jedoch der Tiefe des Momentes in keinster Weise Abbruch tut).

So bunt und vielfältig wie dieses Land und so zahlreich die Menschen, die es bevölkern sind vielleicht auch die Wege der Verschmelzung mit dem Göttlichen. Kehren wir zurück zu den Worten des Patanjali, so ist dies jedoch durchaus ein möglicher: Im vierten Buch, Kaivalya Padha, benennt er verschiedene Methoden, besondere Kräfte /Tugenden zu entfalten, u.a. Drogen.

Auch in den klassischen indischen Schriften wird wiederholt ein Elixier namens Soma erwähnt, dessen Zusammensetzung der Wissenschaft bis heute ein Rätsel ist. Vermutlich hat es sich dabei um eine psychogene Substanz gehandelt, die den Rishis und Schamanen geholfen hat, den Raum ihres Bewusstseins zu erweitern.

Ich erinnere mich an eine Situation in Nepal, als mir zu Shivaratri, einem wichtigen Fest zu Ehren des Shiva, Ghota gereicht wurde, ein Getränk, welches traditionell zu den Feierlichkeiten hergestellt wird und Marihuana enthält: Nachdem ich lange versucht hatte, die unwillkürlichen Zuckungen meines Körpers sowie das Grinsen in meinem Gesicht unter Kontrolle zu bringen und mit großen Schwierigkeiten den Weg ins Bett geschafft hatte, kam er, dieser köstliche Moment des Loslassens und der Hingabe an diesen Augenblick: Ich meinte, jeden einzelnen Nadi zu fühlen, durchpulst von Energie, die sich wellenartig bewegte. Eine unglaublich starke Kraft schlängelte in der Mitte meiner Wirbelsäule nach oben und entlud sich in einem kosmischen Feuerwerk – tief tauchte ich ein in diese Empfindungen und schaute diesem Schauspiel zugleich mit großer Gelassenheit zu. Dabei fühlte ich mich sehr, sehr gegenwärtig, formlos in der Form.

In Haridwar ist es nun an der Zeit, mich von den Sadhus zu verabschieden, um zur Aarati, der allabendlichen Feuerzeremonie, mein Lichtlein zu entzünden und mit Blumen geschmückt in einer Schale aus Blättern der Leben spendenden Göttin Ganga zu übergeben. Dort reiht es sich ein in ein Meer an Lichtern, welche die Hoffnungen, Gebete und Segenswünsche der Menschen auf die Reise bringen. In dem Moment, als ich es auf den großen Fluss setze, bricht wie aus heiterem Himmel ein Gewitter los. Der Strom fällt aus und ich suche im Dunkeln und nass bis auf die Haut meinen Weg zurück zum Hotel. Ich beobachte mich, wie ich dieses Ereignis interpretiere – ja, die Götter scheinen hier zum Greifen nah.

In wenig mehr als 20 km Entfernung befindet sich am Fuß des Shivalik-Gebirges Rishikesh – benannt nach den Rishis, weisen Sehern, die einst die Veden direkt von den Göttern empfangen haben sollen. Rishikesh wird oft auch als Hauptstadt des Yoga angesehen, und zahlreiche Ashrams säumen hier (v.a. Im Ortsteil Swarg Ashram) das Ufer des heiligen Flusses. Bekannt wurde die Stadt im Westen durch die Beatles, deren Guru hier einen Ashram führte. Und auch Sivananda, ein bekannter Meister des Hatha Yoga, gründete hier seinen ersten Ashram.

In Rishikesh ist die Ganga noch klar und rein, und es gibt neben den Ghats ein paar schöne, felsige Buchten, die auch mich zum rituellen Bad einladen. In der klärenden Kühle der Strömung fühle ich mich eins mit mir und der Welt, fühle, dass es keine Sünde gibt, von der wir uns rein zu waschen brauchen – außer der „Sünde“, uns getrennt zu fühlen von der Natur, der Sünde, Leid zu generieren, indem wir den gegenwärtigen Moment verpassen, in der Vergangenheit hängen oder von der Zukunft träumen, die doch immer nur eine Reproduktion der Vergangenheit ist. Jetzt gibt es weder Vergangenheit, noch Zukunft; ich bin da.
Am Ufer des Flusses treffe ich erneut ein paar Sadhus. Die vielen Fragen, die ich in mir trage, können leider nicht in Worten gestellt, die Empfindungen nicht geteilt werden, da keiner der Babas Englisch spricht. Vielleicht ist dies einmal mehr eine Einladung, jenseits der Worte ganz anwesend zu sein.

Hier in Rishikesh widme ich mich ganz meiner persönlichen Asana-Praxis und besuche auch die ein oder andere Yogastunde. Wenngleich der Weise Patanjali der Praxis von Asanas nur einen einzigen Lehrsatz gewidmet hat, so bilden sie doch auf seinem achtstufigen Pfad die dritte Stufe. Patanjali beschreibt eine Asana als bequeme, ausgeglichene Haltung.

In anderen, späteren Schriften – z.B. der Hatha Yoga Pradipika oder der Gheranda Samhita, auf die ich noch eingehen werde - nehmen sie jedoch einen zentraleren Stellenwert ein. Wenn heute im Westen von Yoga die Rede ist, haben die meisten Menschen Bilder von Yogis in seltsamen Verrenkungen vor Augen und auch im Yogaunterricht verschiedener Traditionen liegt das Hauptaugenmerk auf der Ausübung von Körperübungen. Yogis in Indien erklärten mir, dass die Asanas einzig die Funktion hätten, den Körper darauf vorzubereiten, ohne Beschwerden lange in der Meditation sitzen zu können. Die therapeutische Wirkung zahlreicher Asanas sei eher eine Art „Nebeneffekt“: „Natürlich können Asanas ebenso zu Heil- und Gesundheitszwecken ausgeführt werden. Durch sanftes Dehnen der Muskeln, durch Massieren der inneren Organe und durch Anregung der Nerven im ganzen Körper kann die Gesundheit aufrecht erhalten und verbessert werden, und viele Krankheiten, sogar die so genannten unheilbaren, können geheilt oder erleichtert werden.“ (Saraswati, Satyananda 1997, S.14.) Wenn der Körper gesund ist, ist auch der Geist gesund, und diesen zu beruhigen und jenseits der Gedanken in den gegenwärtigen Moment einzutauchen, ist ein wesentliches Ziel von Yoga.

Asanas, so erklärte mir ein Yogi in Rishikesh, wurden nicht von Menschen erfunden, sondern von Shiva selbst gegeben. Das yogische Wissen sei universal und wurde einst von den Rishis geschaut: Im Wesentlichen empfingen sie 84 Asanas.

Nach ein paar Tagen der Asana-Praxis im beschaulichen Rishikesh, geht die Reise weiter nach Varanasi, auch Benares oder Kashi (die von Shiva gegründete Stadt des Lichtes) genannt (vgl. Abram, David u.a. S.362. Berlin 2002). Varanasi ist wohl die heiligste Stadt an der Ganga, die hier bereits zum Himmel stinkt. Das liegt sicherlich nicht an der Asche der Verstorbenen, die hier verbrannt werden und deren Asche in den Fluss gegeben wird, sondern an den vielen Abfällen, Chemieabwässern und Fäkalien viel zu vieler Menschen. Varanasi ist eine Stadt der Sterbenden. Es gibt zahlreiche Hospize, da aus dem ganzen Land Menschen zum Sterben hierher kommen. Wessen Leichnam hier verbrannt werde, so heißt es, der erlange sofortige Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburt. Seit tausenden von Jahren brennt hier das rituelle Feuer, mit dessen Glut die Scheiterhaufen entzündet werden. Varanasi ist aber auch eine Stadt der Pilger, denn bereits ein rituelles Bad an einem der Ghats soll nicht nur von Sünden rein waschen, sondern ebenfalls in die Befreiung führen.

Einst lehrte mich Swamiji eine Meditation, in der eine Szene vor meinem inneren Auge auftauchte, in der ich mich mitten in einem Scheiterhaufen, direkt an einem Fluss wie diesem wiederfand. Als die Qualen des Verbranntwerdens schier unerträglich wurden, schwebte ich plötzlich über dieser Szene und fühlte sehr tief, dass ich nicht dieser Körper dort unten in den Flammen war.

Und doch merke ich, dass ich nicht im Frieden bin mit dem Todesengel und mich immer wieder der Identifikation mit meinem Körper anheim gebe. Aufgrund der Gegenwart des Todes in dieser Stadt, habe ich großen Respekt und ein bisschen Angst, hierher zu reisen.

Einmal in Varanasi angekommen, verändert sich das Gefühl der Beklemmung umgehend. Hier hat der Tod eine ganz andere Selbstverständlichkeit und in dieser fühle ich mich mitgenommen.

Zunächst verirre ich mich in den engen Gassen der Altstadt, die hin und wieder von ein paar imposanten Wasserbüffeln versperrt werden. Doch schließlich finde ich mich an einem kleineren Ghat am Rande der Altstadt wieder – und nicht nur ich finde mich: Jemand ruft meinen Namen – in einer indischen Abwandlung. Ich fühle mich gar nicht gemeint, kenne ich doch hier niemanden. Der Ruf wird lauter. Als ich mich schließlich doch umdrehe, steht dort Sanju Baba, einer der Sadhus, denen ich noch am Vortag in Rishikesh begegnet war. In Indien ist alles möglich.

Als wir wenig später direkt neben dem Harishchandra Ghat, einem der zwei „Burning Ghats“ an einer Chaibude einen Tee aus einem ungebrannten Tongefäß schlürfen, beobachte ich, wie Ascheflöckchen ganz sachte in meine Tasse schweben, trinke und finde dies seltsam normal. Alles ist eins.

Sanju Baba kennt noch viele andere Sadhus hier und eines abends, wir hatten gerade versucht, über Karma-Yoga zu sprechen, erklärte ein Mann aus der Nachbarschaft, dass sein liebstes Karma-Yoga sei, direkt hier am Fluß für alle Anwesenden zu kochen. Nachdem ich es als mein Karma-Yoga befand, das nötige Geld hierfür zur Verfügung zu stellen, zog er los und kehrte mit getrocknetem Kuhdung, Tontöpfen, Reis, Dhal, Gemüse und Mehl für Chapatis zurück, entzündete an Ort und Stelle ein Feuer mit dem Kuhdung und bereitete darauf ein köstliches Mahl, welches wir im Kreis von ca zehn Babas genossen. Diese forderten mich immer wieder auf, Fotos von dieser Szene zu machen, als Erinnerung für mich, während ich ihnen versuchte mitzuteilen, dass dieser Moment für sich stehe. Mir schien es, als tauschten wir die Rollen. Es blieb ein Rätsel, wie diese Männer, die sich von allem losgesagt haben, deren Besitz aus einem hohlem Bambusrohr, welches manche als „Tasche“ trugen und einer Bettelschale bestand, nun von Erinnerungen sprachen, die ich mitnehmen solle. Bin nicht ich es, die sonst raffgierig versucht, jeden Moment festzuhalten? Ich übe mich im Loslassen, und je mehr mir dies gelingt, desto anwesender bin ich.

Weiter geht meine Reise nach Mathura und Vrindavan. In Mathura am völlig überfüllten Busbahnhof traue ich zunächst meinen Augen nicht; denn dort kommt zielstrebig Sanju Baba auf mich zu, als seien wir hier, genau hier, miteinander verabredet. Mir ist zwar bekannt, dass Babas im ganzen Land kostenlos mit dem Zug fahren können, was natürlich eine solche Reise für den Baba ermöglicht, doch die Wahrscheinlichkeit, sich hier zu treffen, ist dennoch äußerst gering.

Dies war unsere letzte Begegnung; die nächsten zwei Wochen verbringe ich mit schweren Durchfällen in einem Yoga-Ashram. Hier erhalte ich die Chance, meine Erfahrungen in der therapeutischen Anwendung von Yoga direkt umzusetzen.

Ja, was ist eigentlich Yogatherapie? Die hier anwesenden Swamis können mir diese Frage nicht beantworten; immerhin geben sie mir ayurvedische Medikamente und gut gemeinte Ratschläge.

Es ist bekannt und inzwischen auch gut erforscht, dass yogische Techniken bei diversen Gesundheitsbeschwerden helfen können. Yogis und Rishis aller Zeitalter wendeten Yoga an, ihren Körper und Geist gesund zu erhalten. Ebenso verwendeten sie yogische Techniken, um Krankheiten zu heilen.

Wenn wir jedoch meinen, Yogatherapie bedeute, mit bestimmten Körper- und Atemübungen Asthma, Diabetes oder Rückenschmerzen zu behandelt, entspricht dies zwar durchaus einem gängigen Verständnis und der üblichen Anwendung von Yogatherapie, greift aber vor dem Hintergrund der klassischen Texte über Yoga zu kurz.

Swamiji lehrte mich, der Glaube, mit Yoga irgendetwas erreichen zu können, sei bereits das Ende von Yoga. Etwas erreichen zu wollen impliziere den Glauben, dass das, was ist, einer Verbesserung bedürfe, während das zu erreichende Ziel ein zukünftiges ist. Yoga aber sei immer jetzt.

 

Was bedeutet dann Yoga als Therapie?

Zunächst einmal bedürfen in unserer Welt Krankheiten einer Therapie. Ein gesunder Mensch braucht diese per definitionem nicht.

Mir stellt sich hier die Frage, was Krankheit und was Gesundheit ist. Natürlich sind mir gängige Definitionen hierzu bekannt; dennoch finde ich es schwierig, diese Frage eindeutig zu beantworten.

Es gibt ein indisches Wort für Gesundheit, swasthya, welches, wörtlich übersetzt, bedeutet, „man selbst zu sein“ (vgl Osho 2012, S.103).

Ist das nicht auch das Ziel von Yoga? Bedeutet „man selbst zu sein“ nicht auch, in seiner wahren Natur zu ruhen und sich von (falschen) Identifikationen zu befreien? Und, mal ehrlich, wer ist in diesem Sinne schon vollkommen gesund?

Yogatherapie reicht vor diesem Hintergrund weit darüber hinaus, den Kranken von seinen Symptomen zu heilen; sie hätte somit zum Ziel, uns an unsere tiefste Sehnsucht, an unser innerstes Selbst zu erinnern. Dieses existiert jenseits aller Symptome und so genannter Krankheiten, jenseits all der Masken und Identifikationen und ist davon völlig unberührt.

Und so behandelt Yogatherapie nicht den Diabetiker, sondern erinnert ihn daran, das auch er im Kern seines Wesens ein Yogi ist.

Hier im Ashram habe ich viel Zeit über all diese Fragen nachzusinnen, während ich Löcher in die Decke starre und am eigenen Leib spüre, wie gut ich meine Erkenntnisse umsetzen kann: Ich ringe mit meiner Erkrankung und bin so gar nicht im Frieden damit.

Zugleich übe ich mich in Yoga, ich übe, mit dem zu sein, was ist, mich in diese Situation hinein zu entspannen, erkenne, dass nicht die Symptome das Problem sind, sondern mein Hadern und Ringen mit ihnen und die Identifikation damit.

Immer wieder gibt es kurze Momente des Friedens: Ja, es ist so. Dieser Satz wird mir zum treuen Begleiter und ist bis heute eines meiner wichtigsten Mantras: Es ist so.

Nach zwei Wochen fühle ich mich wieder soweit genesen, dass ich weiterreisen kann - wenn auch etwas kraftlos und abgemagert. Die Reise führt mich nach Pushkar, jene Stadt in Rajastan, die nach der Lotosblüte (= pushpa) benannt ist, die der Schöpfergott Brahma hier zu Boden geworfen haben soll. Mitten in der Wüste entsprang an dieser Stelle Wasser, an welchem Brahma daraufhin eine Versammlung der Götter einberufen haben soll. Der See von Pushkar ist bis heute einer der heiligsten Orte Indiens (Vgl. Abram et al. 2002, S. 267) Einmal im Jahr, zum Vollmond im Oktober/November, gibt es hier die Möglichkeit, sofortige Befreiung zu erlangen. Es soll sich dabei um den Jahrestag des Göttertreffens handeln.

Zur gleichen Zeit findet hier der größte Kamelmarkt der Welt statt, zu dem die Menschen aus ganz Rajastan und weit über dessen Grenzen hinaus mit ihren Tieren kommen. Ich reihe mich ein in den Strom Tausender von Pilgern, die für ihr rituelles Bad an diesem einen Tag im Jahr hierher kommen. Ein aggressiv hartnäckiger Brahmane mit leerem Blick versucht, mir die Durchführung einer Zeremonie aufzuzwingen, die er sich natürlich gut bezahlen lassen will. Als ich dies ablehne, will er mir einreden, dass ich dies meiner Familie schuldig sei, der nun – aufgrund meines Fehlens - großes Unglück widerfahren werde. Auch bekomme ich nun kein rotes Bändchen um mein Handgelenk gewunden, den so genannten „Pushkar-Pass“, an dem andere, ebenso aggressive Brahmanen erkennen, dass ich die Pflichtzeremonie noch nicht durchgeführt habe und mich ebenfalls belagern. Ich fühle mich frei. Den Fluch und die Schuld nehme ich nicht an und lasse mich nicht binden – auch nicht vom roten Bändchen eines Brahmanen. Kann ich den Segen der Götter kaufen? Kann ich eins werden mit meiner göttlichen Natur, wenn ich mich schuldig und zum Opfer mache? Brauche ich Pujas, um mich zu verbinden?

Yoga schließt die Durchführung von Pujas nicht aus. Ich habe erlebt, das eine Puja mir ebenso wie eine Asana die Tür öffnen kann – doch entscheidend ist nicht die Handlung (= die Form), sondern meine Anwesenheit und Freiwilligkeit in dieser. Es ist also nicht die Frage, was ich tue, sondern wie ich es tue.

Zum besagten Vollmond tauche ich ein in den heiligen See, der, wie ich später erfahre, vollkommen verseucht ist von Schwermetallen aus Farben, dort versenkter Götterfiguren – dabei werde von zahlreichen Augenpaaren verfolgt und bin so gar nicht bei mir. Ich scheitere an dem Versuch, nicht zu urteilen: Das hier ist eine große Kirmes. Zu dieser fehlt natürlich auch das Riesenrad nicht und der Verkauf von allerlei Tand. Auch die Tiere werden wohl eher als Ware denn als Manifestation des Göttlichen gesehen und müssen vielerlei Qualen erdulden - wie oft habe ich dies beobachtet in diesem Land voller Widersprüchen. Ein wenig außerhalb vom großen Rummel liegen ein paar verendete Kamele auf dem heißen Wüstenboden.

Ich bin froh, als ich Pushkar wieder verlasse.

Wieder in einem anderen Jetzt – Zeit ist so relativ – finde ich mich morgens um fünf im Flughafen von Mumbai wieder. Als ich ins Erdgeschoss komme, schlägt mir eine faulig riechende Rauchwolke entgegen. Zuerst davon ausgehend, dass es hier brennt, werde ich gewahr, dass dies der Smog ist, der mit Macht in das Gebäude hereindrängt. Ich denke an die Yogis, die es vermögen, ihren Atem über lange Zeit inne zu halten und wünschte, ich könnte Khumbaka, wie diese Technik heißt, ausführen, bis ich diesen Moloch verlassen habe.

Doch zunächst führt mich meine Reise zum Yoga Institut im Stadtteil Santacruz.

Die Betreiber des Instituts, Dr. Jaydeva und Smt. Hansaji Yogendra führen hier das spirituelle Erbe ihres Gurus, U.K. Ravindranath fort, der das Instiitut bereits 1918 gründete – laut Auskunft der Betreiber sei dies das älteste organisierte Yogazentrum der Welt.

Das Institut veranstaltet regelmäßig Health Camps. Diese widmen sich jeweils unterschiedlichen Themen rund um verschiedene Krankheitsbilder (z.B. Asthma, Bluthochdruck,...) und wie sich diese mit Hilfe von Yoga - adjuvant zur allopathischen Medizin - behandeln lassen.

An einem dieser Camps nehme ich teil. Der Unterricht wird von Yogalehrerinnen, Ärzten und der Direktorin des Instituts, Hansaji, durchgeführt und beinhaltet sowohl medizinische Aufklärung (aus dem Blickwinkel der allopathischen Medizin), yogisches Grundlagenwissen als auch die Durchführung von leichten Asanas. Diese werden nicht gehalten, sondern dynamisch durchgeführt, wobei die Betonung auf der körperlich korrekten Ausführung liegt. Dazu wird erklärt, was die jeweilige Asana auf der körperlichen Ebene bewirkt. Der Unterricht wird im Minutentakt unterbrochen vom Motorengeräusch tieffliegender Flugzeuge, die die Wände zum Wackeln bringen. Das Yoga-Institut liegt in der Einflugschneise des Flughafens von Mumbai.

Ich erinnere mich, dass Swamiji betonte, dass es leicht sei, in einer Höhle im Himalaya zu meditieren, die wahre Kunst bestehe jedoch darin, sich nicht von der Welt zurückzuziehen, sondern in der Welt wahrhaftig anwesend zu sein.

Dass es selbst in einer Höhle im Himalaya nicht unbedingt leicht ist zu meditieren, habe ich erlebt, als ich dies in Nepal praktizierte; denn auch dort begegnete mir zunächst so mancher Dämon.

Hier, zwischen Autohupen, Baulärm und tieffliegenden Flugzeugen sehe ich mich erneut vor die Herausforderung gestellt, ganz anwesend zu sein mit allem, was ist. Ich lasse mich nicht auf ein Ringen damit ein, lasse mich nicht forttragen vom Lärm. Da es mir aber aufgrund des selbigen nicht gelingt, in der Nacht ausreichend zu schlafen, ringe ich während des Unterrichtes immer wieder mit meiner Müdigkeit – erinnernd, dass die Müdigkeit eine Idee, ein Widerstand ist und mein Unvermögen zu schlafen Ausdruck meines erregten Geistes.

Im Institut wird keine Meditation gelehrt; auch die Ausführung der Asanas ist sekundär. Der yogische Schwerpunkt liegt auf dem Umgang mit dem Geist. Ein ruhiger Geist, der sich nicht von den Wellen an seiner Oberfläche, den Emotionen, hin und her werfen lässt wie ein führerloses Boot gilt als das höchste Yoga.

Dies entspricht im Grunde auch den Lehren des Patanjali (s. 2. Sutra: In Yoga sind die Trübungen des Geistes aufgelöst.) und den Inhalten der Hatha Yoga Pradipika, eines weiteren Grundlagenwerkes des heute praktizierten Yoga, welches ich an anderer Stelle bereits erwähnt habe. Dieses wurde von dem Yogi Swatmarama im 6. Jh. nach Christi Geburt verfasst.

Die Hatha Yoga Pradipika betont jedoch ebenso wie der Weise Gheranda in seiner Samhita die Schwierigkeit, den Geist ruhig werden zu lassen, wenn der Körper voller Giftstoffe und der freie Fluß von Prana durch die Nadis blockiert ist. Im Gegenteil, wenn wir versuchen, den Geist zu beruhigen, unser Körper- und Energiesystem jedoch unausgeglichen ist, beginnen wir, mit der Unruhe zu kämpfen, wodurch diese verstärkt werde. Folglich beginnt Hatha Yoga mit dem Körper - und wird aus diesem Grunde leider heute oft auf die Körper- und Atemarbeit reduziert. Die so genannten Shatkarmas, yogische Ausleitungsverfahren reinigen den Körper von kumulierten Giftstoffen und sind gerade angesichts der Belastung mit Umweltgiften in der heutigen Zeit von großer Relevanz. Die Ansichten der Hatha Yoga Pradipika entsprechen durchaus denen der modernen Naturheilkunde und Wissenschaft, die erkennt, dass es nicht nur der Geist ist, der sich den Körper schafft, sondern durchaus die Stoffwechsellage und Ansammlung von toxischen Faktoren unsere Gemütsverfassung und unser Denken beeinflussen. Yogischen Schriften zufolge findet sich die Ursache aller Krankheiten in Verunreinigungen von Körper, Geist und Emotionen (Vgl. Saraswati, Swami Niranjanananda 2012, S. 35).

Die Asanas bereiten den Körper auf die höheren Formen des Yoga vor. Mit Hilfe der Pranayamas schließlich werden die Energiekanäle gereinigt, die Chakras und der Energiefluss in den Nadis aktiviert. Wenn der Körper von seinen toxischen Belastungen gereinigt und die Energien balanciert seien, stelle sich Meditation ein. (vgl. Saraswati, Swami Satyananda)

Die Ursache allen Leidens, so erklärt nun Hansaji im Yoga Institut, liege in uns selbst: „Woran auch immer du leidest, versuche niemals, anderen die Verantwortung dafür zu geben. Es liegt an dir, alles Leiden, allen Schmerz aufzulösen.“ Sie lehrt ihre Schüler, ihren Geist zu disziplinieren und positive Gedanken zu denken.

Ich frage mich, was ich mit meinen „negativen“ Gedanken mache. Ist es wirklich eine Frage der Disziplin des Denkens? Oder eher eine Disziplin des Gewahrseins? Während Hansaji uns auffordert, positiv zu denken, werde ich mir meines negativen Denkens gewahr. Doch kämpfe ich nicht damit. Ich suche nicht nach den positiven Gedanken, und doch werden meine Gedanken ruhiger und friedlicher, führt mich Yoga hinter die Dualität des Denkens.

Der Guru ihres Gurus, Paramhamsa Madhavdasji, hat gesagt:“ Wenn ein Devotee weiß, dass seine wahre Natur göttlich ist – wie könnte dort Schmerz sein? Wenn dort Schmerz ist, beruht dieser auf dem Fehlen von Hingabe.“ (Yoga and total Health, Vol LX No.6, Jan. 2015)

Von welcher Hingabe ist hier die Rede? Ist es die Hingabe an das Jetzt? Und ist das Jetzt identisch mit „Gott“? Ist Hingabe etwas, was ich tun kann oder ist es eher ein „Lassen“? Realisiere ich mein Einssein mit Gott, wenn ich Jetzt voll und ganz anwesend bin?

 

Kann dies ein Aspekt von Yogatherapie sein?

In einer Haltung, welche auf der Identifikation mit dem Schmerz beruht, suche ich nach Wegen, den Schmerz zu bekämpfen, ihn los zu werden. Wenn ich jenseits des Schmerzes meines innersten Wesens gewahr bin, ist der Schmerz nicht mehr mein Feind.

Ich mache mich nun erneut auf den Weg und fahre mit dem Zug von Mumbai nach Goa. Ich mag das Zugfahren in Indien sehr. Während der Wind durch das offene, vergitterte Fenster zahlreiche Gerüche zu mir hereinträgt und meine Haare zerzaust, wiegt mich das Rhythmische Geräusch, welches die Räder auf den Schienen verursachen, in eine leichte Trance. Draußen ziehen üppig grüne Landschaften vorbei; Frauen in bunten Saris arbeiten auf den Feldern, hier und da steht eine Kuh – in Feldern, auf Müllkippen, zwischen Mopeds, Autos und Motorrikshas an Bahnübergängen... Ab und zu läuft ein Chaiverkäufer durch den Zug. Ich unterhalte mich mit einigen Mitreisenden. Nachdem die Standardfragen (wo ich herkomme, ob ich verheiratet bin usw.) geklärt sind, verebben die meisten Gespräche wieder; einige entwickeln sich weiter. Fast jeder hat etwas zu essen dabei und teilt dies mit großer Selbstverständlichkeit mit seinen Mitreisenden. Mir fällt eine buddhistische Weisheit von einer Postkarte ein: „Es gibt keine Fremden; nur Freunde, die du noch nicht kennst.“ Ja, so fühle ich mich jetzt gerade und auch sonst sehr oft in diesem Land: Im Kreis mir nicht bekannter Freunde. Schließlich sorge ich für Gelächter im gesamten Abteil, als ich meinen leeren Plastikbecher nach dem Genuss eines Masala Chais sorgfältig in meiner Tasche verstaue statt diesen, wie es hier üblich ist, aus dem Fenster zu werfen. Eine Diskussion über den Umgang mit Müll entsteht. Der Plastikmüll ist in Indien wirklich ein großes Problem, und ich weiß nicht, ob es wirklich das kleinere Übel ist, meinen Becher nach meiner Ankunft in einen der wenigen vorhandenen Mülleimer zu werfen (wer weiß, wo dessen Inhalt landet...). Meistens reise ich mit einem Becher und einer Wasserflasche aus Edelstahl, um, wo möglich, Müll zu vermeiden.

In Goa angekommen, fühle ich mich zunächst gar nicht mehr, als sei ich in Indien, sondern eher auf einem großen Spielplatz für eine bunte Mischung aus Hippies, westlichen Pauschalurlaubern und indischen Tagestouristen, die teils schockiert, teils fasziniert von dem bunten Treiben und den fast nackten Touristen sind. Hier werden leider nicht nur spirituelle Sehnsüchte der westlichen Sucher bedient, sondern auch reichlich Spirituosen feil geboten und konsumiert.

Im Süden Goas treffe ich Manoj. Der 35jährige Yogi, dessen Frau und Kind mit seinen Eltern irgendwo im Himalaya leben, gibt hier Yogakurse für Touristen. Zudem bietet er verschiedene Yogalehrer-Ausbildungen in Hatha Yoga und Kundalini Yoga in Rishikesh an. Er besticht durch sein offenes Wesen und eine klare Ausstrahlung; seine Yogastunden sind geprägt von dynamisch ausgeführten Asanas und intensiven Pranayamas.

Für ihn ist Yoga eine Lebensweise, eine Reise mit und zu uns selbst. Yoga sei nicht einfach ein System von Übungen, so erklärt er, sondern begleite uns 24 Stunden. Yoga lehre uns, was unsere wahre Natur sei, und diese sei glücksselig, freudvoll, verspielt und angstfrei. In der Rezitation des Mantras Soham werden wir dieser gewahr.

Soham – ich bin dies, d.h. Ich bin nicht mein Körper, nicht meine Gedanken, ich bin Teil der göttlichen Energie.

Wenn wir den Körper, die Gedanken nicht reinigen, so seien wir jedoch nicht in Kontakt mit uns selbst. Hier schenkt uns Yoga Reinigungstechniken: Shatkarmas und Asanas für den physischen Körper, Pranayama für unseren Mentalkörper oder Subtilkörper. Dieser bestehe aus 72000 Nadis, ein Netz von Energiebahnen, die den gesamten Körper durchziehen. Wenn der Energiefluss in den Nadis blockiert sei, so entstünden Verunreinigungen im Mentalkörper, aus denen unsere größten Feinde resultieren: Lust, Ärger, Gier, emotionale Anhaftung und Egoismus. Manoj betont, dass es nicht Ziel von Yoga sei, der Gesellschaft den Rücken zu kehren, da es außerhalb von uns keine Feinde gebe. Yoga lehre uns, in der Gesellschaft zu leben, doch jenseits der Gedanken, jenseits dieser fünf „Feinde“. Wenn wir Pranayama praktizieren, befreien wir uns davon. Pranayama sei mehr als eine Reihe von Atemübungen. „Prana“ ist Lebensenergie und durchströmt die gesamte Schöpfung. „Ayama“ bedeutet Kontrollieren, Regulieren. Mit Pranayama -Techniken reinigen wir nicht nur den physischen Körper, sondern erweitern unsere Dimension von Lebensenergie und lenken diese gezielt durch den Körper.

Der Weise Gheranda beschreibt Pranayama als eine Praxis, durch die ein Mensch zum Gott wird. Pranayamas bilden die Basis in der Behandlung von Krankheiten durch Yoga (Vgl. Saraswati, Swami Niranjanananda 2012, S. 384)

Laut Yogi Manoj beginne Yogatherapie immer mit den Gedanken. Wenn diese zur Ruhe kommen, erwachse daraus bedingungslose Liebe und Respekt für uns selbst. Wenn der Geist im Frieden sei, beeinflusse dies wiederum den Körper. Anders herum könne ein aufgewühlter Geist auch körperliche Erkrankungen verursachen.

Neben Pranayama vermögen Mantras, den Subtilkörper zu reinigen. Mantras besäßen, so Manoj, große Heilkräfte. Ihre Rezitation erzeuge Vibrationen im Nervensystem und Geist, die unsere inneren Kräfte erwecken und sowohl mentale als auch körperliche Probleme beheben können. Viele Mantras rufen Gottheiten an und erwecken so auch die Göttlichkeit im Inneren.

All diese Techniken wirken natürlich nicht, indem wir darüber nachdenken, sondern indem wir sie praktizieren. Wenn Pranayamas, Mantra und Meditation Wege sind, unseren Mentalkörper und, damit verbunden, psychische Probleme zu behandeln, so stellt sich mir die Frage, wie ich z.B. einen Menschen, der unter einer schweren Depression und entsprechender Antriebslosigkeit leidet, dazu motivieren kann, die entsprechende Disziplin aufzubringen.

In diesem Fall empfiehlt Manoj Yoga Nidra, eine Technik aus den Tantras, die ich weiter unten erläutern werde. Insgesamt betont er jedoch, dass Yoga nicht für kranke Menschen sei. Am Anfang einer Yogatherapie stehe immer ein Counseling und Veränderung des Lebensstils (Entspricht dies nicht auch den Stufen Nyama und Yama des Patanjali?). Erst nach entsprechender Vorbereitung des Körpers und des Geistes beginne er mit Yoga im eigentlichen Sinne.

Mit einem Taxi reise ich nun in den Norden Goas, nach Assagao. Am Ortseingang heißt mich ein Schild willkommen im „Land der Blumen“, und trefflicher könnte der Ort kaum beschrieben werden, der geprägt ist von üppigen Vegetation des Dschungels, bunt bemalten Häusern im portugiesischen Kolonialstil, Vogelgesang und Grillenzirpen. Hier befindet sich der SWAN Yoga Ashram, der von Swami Gyanmitra, geführt wird. Er wurde an der Bihar school of Yoga in Sannyasa initiiert.

Dort lebte und wirkte Swami Satyananda Saraswati, der die Bihar School, sowie karitative Einrichtungen und die Yoga Research Foundation gegründet und seinen Körper in 2009 verlassen hat. Sein Erbe wird heute fort geführt von Swami Niranjanananda, der hier die erste Yoga-Universität der Welt gründete. Die Bihar School legt einen besonderen Schwerpunkt auf die medizinische Forschung im Zusammenhang mit Yoga, trägt Forschungsergebnisse aus der ganzen Welt zusammen und gibt zahlreiche Bücher zu diesen und anderen yogischen Themen heraus, deren Lektüre ich sehr empfehlen kann. Auch eine dreimonatige Yogalehrer-Ausbildung wird dort angeboten.

Hier im SWAN- Ashram habe ich mich für ein Retreat angemeldet. Der Name SWAN leitet sich her vom Namen des Gurus der Bihar School, Swami Niranjananda. Der Schwan gilt auch als Tier, welches vermag, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Er ist das Tier der Göttin der Weisheit und schönen Künste, Saraswati.

Der Tag beginnt morgens um 6:15 Uhr mit Antar Mouna, einer geführten Meditationstechnik. „antar“ bedeutet „innere“; „Mouna“ bedeutet „Stille“. Diese Technik hat Pratyahara, den Rückzug der Sinne und die Kontrolle des Geistes zum Ziel. (Vgl. Saraswati, Swami Satyananda 2007, S. 211).

Swamiji lehrte mich, nicht mit dem Geist und seinen Inhalten zu ringen: Wenn ich in einem Bach wühle, wirbelt Dreck auf, und das Wasser wird trüb. Wenn ich einfach am Ufer sitze und warte, klärt sich das Wasser von alleine (vgl Osho 2012, S. 143-145).

Das Problem sei nicht unser Geist, so Swamiji, sondern dass wir uns zu dessen Sklaven machen. Der Geist sei so etwas wie ein Hausmeister, der uns in vielerlei Hinsicht dienlich sei. Wenn nun aber der Hausherr abwesend sei, komme der Hausmeister in die schwierige Situation, sich als Hausherr aufspielen zu müssen. Das Problem sei nicht der Hausmeister, sondern die Abwesenheit des Hausherren. ( vgl. „Er (der Verstand eines Erleuchteten) verschwindet als Herr, aber er bleibt als Diener.“ ders., S.32)

Indem ich in „Antar Mouna“ die Bewegungen des Geistes beobachten lerne, erkenne ich, dass ich nicht meine Gedanken bin. Doch wer ist der Beobachter? Ist das der Hausherr, von dem Swamiji sprach? Ich fühle mich in dieser Übung sehr still und sehr gegenwärtig.

Im Anschluss an die Meditation werden drei der sechs Shatkarmas, yogische Reinigungstechniken, praktiziert. Die Shatkarmas stehen in einigen klassischen Schriften (Hatha Yoga Pradipika und Gheranda Samhita) am Anfang einer jeden Yogapraxis, die in den im Körper kumulierten Giften die Ursache jeder Krankheit sehen. Diese stellen sich wiederum als Hindernisse auf dem spirituellen Weg dar. Wenn mit yogischen Techniken Krankheiten geheilt werden, ist dies somit ein Mittel zum Zweck auf dem spirituellen Weg und beginnt mit der Reinigung.

Zunächst erläutert Gyanmitra die Durchführung von Jala Neti, einer Spülung der Nase mit Salzwasser. Diese Übung begleitet mich seit einigen Jahren und lindert nicht nur allergische Symptome, Erkältungskrankheiten sowie Sinusitis, sondern wirkt sich spürbar klärend auf den Geist aus und verbessert mit ihrer Wirkung auf das Ajna Chakra die Intuition.

Auf Jala Neti folgt Kunjal Kriya, die Reinigung des Magens mit Salzwasser. In schneller Folge werden mehrere Gläser Salzwasser getrunken und dann erbrochen. Da dies auf nüchternen Magen erfolgt, ist es nicht begleitet von den unangenehmen Empfindungen des Erbrechens bei Krankheit, da lediglich das Wasser wieder heraus kommt und den Magen von übermäßigem Schleim, eventuell Galle und Säure reinigt. Weiterhin soll sich diese Übung bewährt haben in der Behandlung von Verdauungsstörungen und Atemwegserkrankungen.

Nach einer kurzen Entspannung geht es weiter mit Laghoo Shankaprakshalana, einer kleinen Darmreinigung. Auch diese praktiziere ich seit einigen Jahren regelmäßig und begleite auch Patienten bei dieser Praxis. Erneut werden je zwei Gläser Salzwasser getrunken. Daraufhin werden fünf verschiedene Asanas praktiziert, die das Salzwasser zügig durch den Verdauungstrakt befördern. Diese Abfolge wird zwei weitere Male wiederholt; daraufhin findet in der Regel ein Stuhlentleerung statt und die kleine Darmreinigung ist beendet (bei Ausführung der vollständigen Darmreinigung wird diese Abfolge so lange wiederholt, bis lediglich klares Wasser aus dem Anus kommt).

Dieses uralte yogische Wissen entspricht durchaus den Erkenntnissen einer modernen Naturheilkunde, die ebenfalls dem Darm einen zentralen Stellenwert einräumt. Wenn insbesondere die Taschen des Dickdarms mit alten Stuhlresten zugesetzt sind, können wir uns noch so gut ernähren, die Nährstoffe jedoch nicht wirklich aufnehmen. Wenn diese im Darm vor sich hin gären oder faulen, entstehen toxische Substanzen, die sich negativ auf unser Wohlbefinden auswirken und zu schweren Krankheiten führen können. Zudem sitzen rund 80 % des Immunsystems im Dünndarm. Wir finden hier auch ein komplexes Nervengeflecht, was die Bezeichnung „Bauchhirn“ durchaus berechtigt.

Die Shankaprakshalana ist die wirksamste, mir bekannte Methode, den gesamten Verdauungstrakt zu reinigen und hinterlässt ein Gefühl der Leichtigkeit und Klarheit. Sie sollte nur unter Anleitung eines erfahrenen Lehrers durchgeführt werden.

Nach einer leichten Mahlzeit geht es weiter mit Yoga Nidra, dem „yogischen Schlaf“. Yoga Nidra ist eine fundierte Methode der Tiefenentspannung, welche von Swami Satyananda Saraswati gerade für die Menschen der heutigen Zeit aus dem Studium der tantrischen Schriften und seinen eigenen Erfahrungen heraus entwickelt wurde. Bei dieser Übung werden systematisch Körper, Geist und Emotionen entspannt.

Während mein Bewusstsein sehr wach ist, führt Gyanmitra meinen Körper und meinen Geist in tiefe Ruhe.

Nach einer ersten Entspannung fordert mich Gyanmitra auf, mein Sankalpa zu formulieren; dies ist ein einfacher, positiver Satz, eine Autosuggestion, die etwas beinhaltet, was ich in meinem Leben erreichen möchte. Das Sankalpa ist wie ein Samenkorn, welches ich in gut vorbereitete Erde meines Unterbewusstseins pflanze. Jede Wiederholung dieses Sankalpas in der Entspannung ist wie ein Gießen und Pflegen des werdenden Pflänzchens. Swami Satyananda Saraswati sagte zum Sankalpa:

Alles in deinem Lenem kann erfolglos sein, aber niemals dein Sankalpa.“ (Saraswati, Prakashananda 2003, S.2)

Es folgt das Kreisen des Bewusstseins durch den Körper, die Wahrnehmung des Atems und unterschiedlicher Empfindungen sowie die Imagination verschiedener Symbole in Chidakasha, dem Raum hinter den geschlossenen Augen.

Der Zustand von Yoga Nidra entspricht jenem Zustand kurz vor dem Einschlafen, wenn wir weder wach sind, noch schlafen, erste Traumbilder auftauchen... Während dieser Zeit produziert das Gehirn Alphawellen, Verspannungen können sich lösen. Da wir in der Regel diese Phase während dem Einschlafen nur streifen, nehmen wir viele Verspannungen mit in den Schlaf. In Yoga Nidra kultivieren wir genau diesen Zustand.

Während Gyanmitra spricht, tritt seine Stimme immer weiter in den Hintergrund. Bilder tauchen vor meinem inneren Auge auf, teilweise sind es Erinnerungen, teilweise Szenen, von denen mir nicht bewusst ist, dass ich sie jemals erlebt habe. Als er mich auffordert, meinen Körper schwer werden zu lassen, fühle ich meinen Körper in die Erde sinken; als er mich auffordert, Leichtigkeit in den Körper zu bringen, habe ich das Empfinden, fast zu schweben. Während mein Körper schläft, fühle ich mich auf seltsame Weise sehr wach. Wie aus weiter Ferne höre ich nun, dass ich langsam zurückkehren solle aus meiner Entspannung und werde durch verschiedene Schritte des Aufwachens begleitet. Als ich schließlich wieder sitze und mit der Gruppe gemeinsam das Mantra OM intoniere, fühle ich mich frisch und genährt, als hätte ich lange und tief geschlafen.

Am Abend werde ich eingeladen, an der Feuerzeremonie, Havan, teilzunehmen. Bevor im Tempel des Ashrams vor dem Shivalingam das zeremonielle Feuer entzündet wird, werden verschiedene Mantras rezitiert und die Himmelsrichtungen mit geweihtem Wasser gehuldigt, welches mit einer Blüte in die Richtungen und über die Anwesenden gesprenkelt wird. Alle Anwesenden werden mit Chandan, einer mild kühlenden Sandelholzpaste, auf dem Dritten Auge gesegnet.

Im Anschluss rezitieren wir 108 Mal das Mahamritunjaya Mantra, eine Praxis, die an vielen Orten weltweit jeden Samstagabend praktiziert wird, um Frieden und Heilung in die Welt zu bringen. Während des Chantens übergeben wir dem Feuer unsere Opfergaben, Ghee und verschiedene Kräuter, sowie unsere symbolischen Herzensgaben. Dabei sind wir aufgefordert, für unsere Heilung, die Heilung uns nahe stehender Menschen, Tiere und der Erde zu beten. Vom Maha Mritunjaya Mantra heißt es, dass es eine jede Krankheit zu heilen vermag. Es gilt auch als Mantra der Unsterblichkeit und wird rezitiert, um Sterbende hinüber zu geleiten. Den Tod zu überwinden bedeutet nicht, dass unser Körper unsterblich ist, sondern dass wir gewahr werden, dass wir nicht unser Körper sind, sondern diesen nur vorübergehend bewohnen, lässt uns Gyanmitra wissen.

Von Mantras heißt es – wie auch von den Asanas und anderen Techniken des Yoga -, dass sie nicht erfunden oder von Menschen geschaffen, sondern von den Rishis in tiefer Meditation gehört und geschaut wurden. Laut den Veden, aber auch in anderen Religionen basiert die gesamte Schöpfung auf einem Urklang, Om. (Vgl. auch Bibel: Am Anfang war das Wort / der Klang (Johannes 1,1) und die Verwandtschaft von „Om“ und „A-men“). In tiefer Meditation, so erklärt der Yogalehrer Atma, können wir diesen Urklang vernehmen. Auf diese Weise sei auch Sanskrit, die Sprache, in der schließlich die Vedas verfasst wurden, gefunden worden. Es sei schwierig, Sanskrit-Mantras zu übersetzen, so fährt Atma fort, da ihre Bedeutung und Wirkung sehr viel weiter reiche als die – manchmal seltsam anmutenden – wörtlichen Übersetzungen.

Das Wort „Mantra“ - ebenfalls Sanskrit – leitet sich her von „manat“ (=Geist) und „trayati“ (= Befreiung); die Praxis der Mantrarezitation harmonisiert demnach den Geist und befreit ihn von seinen Obzessionen; weiterhin erwecke sie, so Atma, die subtileren Dimensionen unseres Bewusstseins, die Intuition.

Laut der yogischen Lehre befinden sich 84 Akupunkturpunkte im Gaumen, die – eine korrekte Intonation des Mantras vorrausgesetzt – während des Chantens gezielt stimuliert werden und über die Nadis Einfluss auf unseren gesamten feinstofflichen Körper nehmen.

Darüber hinaus ist das Chanten und die Durchführung von Pujas wesentlicher Bestandteil von Bhakti-Yoga, dem Weg der Hingabe an das Göttliche, den auch Patanjali in seinem 1. Buch benennt: Im Chanten des Mantras „Om“ richten wir uns aus auf das Göttliche.

Mit diesem Mantra beginnen und enden wir auch die Yogaklassen, die hier im Ashram geprägt sind von Pranayamas, Pawanmuktasanas und leichten Asanas. Die Pawanmuktasanas befreien die Gelenke von Ablagerungen und energetischen Blockaden und bereiten so vor allem Ungeübte auf die Asanapraxis vor.

Viele der Gäste des Ashrams sind zu diesem Retreat gekommen, um aus unterschiedlichsten Gründen einen Einstieg in Yoga zu finden. Während der eine sich einfach einen schöneren, gesünderen Körper wünscht, stecken nicht wenige gerade in ernsthaften Lebenskrisen, hervorgerufen durch die komplexen Anforderungen eines modernen Berufslebens, familiäre Belastungen und /oder psychosomatische und körperliche Erkrankungen. Gemeinsam ist den Anwesenden wohl der Wunsch, sich der eigenen Mitte wieder gewahr zu werden und die Erkenntnis, dass der Lebensstil der westlichen Industrienationen wenig Antworten auf die zutiefst menschlichen, spirituellen Sehnsüchte bietet.

Nach einer Woche im Ashram fühle ich mich entspannt, genährt und sehr zentriert.

Ich bin bereit, wenn auch mit schwerem Herzen, die Menschen, den Ort und dieses magische Land wieder zu verlassen.

Etwas sentimental sehe ich aus dem Fenster des Fliegers; Mondlicht spiegelt sich im Meer.

 

Meine Reise geht weiter, hier und jetzt.

Ja, mehr als jedes andere Land, welches ich bereist habe, forderte Indien meine Gegenwärtigkeit. Und mehr als jedes andere Land begegnete mir hier das Leben vollkommen ungeschminkt, begegnete mir hier der Tod.

Leben und Tod sind so nah beieinander; hier die Blumengirlanden für eine Puja, spielende Kinder, direkt daneben ein toter Affe auf einem Müllhaufen. Monumentale Tempelanlagen mit bildhauerischen Meisterwerken einer frühen Hochkultur, Plastikstühle und Neonlicht unter einem röhrenden Ventilator. Wunderschöne, selbstbewusste Frauen in seidenen Saris, bettelnde Witwen in Vrindavan. Mädchen, die abgetrieben werden, weil sie Mädchen sind, Mädchen, die als Göttinnen verehrt und wie Prinzessinnen gekleidet werden....weil sie Mädchen sind. Ein Hund mit einem gespaltenen Schädel läuft über die Straße; ein Obdachloser uriniert auf einen Müllhaufen, hält inne, klaubt eine Frucht aus dem Müll und verspeist sie. Ein Säugling ohne Arme und Beine liegt auf einem Bahnsteig in Mumbai; Menschen hasten vorbei; die Mutter in einiger Entfernung – welche Not hat sie dazu getrieben, ihr Kind zu verstümmeln und bereits als Säugling zum Betteln zu zwingen? Tropische Fülle und Blütenpracht, goldene Paläste, eine Stadt in Rosa. Pujas und Mantra-Rezitationen an jeder Straßenecke, eine unglaubliche religiöse Toleranz. Grenzenlose Gastfreundschaft und Touristenabzocke, blumiges Räucherwerk, Fäkalien und Fakire, Mandalas aus farbigen Pigmenten auf der staubigen Straße....ja, der Staub....ich klopfe ihn ab und gehe weiter. Kaleidoskopartig verschwimmen die Eindrücke ineinander.

Jemand hat einmal gesagt, Yoga sei, weiter zu gehen ohne zu suchen.

Yoga ist auch, mit allem zu sein, was ist.

Das Leben ist durchdrungen von der Angst vor dem Tod, vom Klammern an das Leben.“ wusste bereits Patanjali. (zit. nach Osho 2012, S.210 ff.). Demnach resultiere unsere Angst vor dem Tod letztendlich in unserer Angst vor dem Leben. Denn dieses ist nicht statisch, sondern im ständigen Wandel, eine Reise in das Unbekannte, es lässt sich nicht festhalten....und geschieht immer JETZT.

In Indien werden meine vertrauten Abwehr- und Verdrängungsmechanismen außer Kraft gesetzt, ich habe gar keine andere Wahl, als einzutauchen und mit zu fließen. Was im Westen versteckt wird, liegt hier offen, selbst Sterben ist ein soziales Event. Indien konfrontiert und fordert heraus. Hinzuschauen, da zu sein, weder emotional noch abgestumpft - auch das ist Teil einer Evolution des Bewusstseins, auch das sind ein paar Schritte auf dem Weg...

Viele Antworten habe ich gefunden im Unterwegs....und noch viel mehr Fragen.

Wie kann ich mein Wissen um Yoga in einer äußeren Reise vertiefen, wo doch Yoga eine Reise nach innen ist?

Wie kann ich Yoga beschreiben anhand von Erinnerungen - und nichts anderes sind meine Reise-Erfahrungen nun – wenn Yoga doch, frei von Vergangenheit oder Zukunft JETZT geschieht?

Genau JETZT – wie strömt der Atem ein und aus? Welche Körperempfindungen habe ich? Das Licht.... der Klang.....die Stille hinter all diesen Gedanken.....

Wieder und wieder klopfe ich den roten Staub der indischen Straßen aus meinen Kleidern, ein paar Schritte, ein paar Augenblicke.....und werde gewahr, dass Yoga eine permanente Praxis ist. Nicht ein für alle Male kann ich meinen Geist von seinen Gedanken reinigen, es ist ein permanentes Tun, ein permanentes Gewahrsein und vollzieht sich jenseits von Vergangenheit (gestern den Staub schon abgeklopft zu haben heißt nicht, dass es heute keinen neuen gibt) und Zukunft (ich kann nicht heute schon den Staub von morgen abklopfen).

 

Einer der ältesten Yoga-Aphorismen ist: Stirb jeden Moment, so dass du jeden Moment wieder geboren werden kannst. Löse dich jeden Augenblick vom Vergangenen, wirf allen Staub ab, den du angesammelt hast und sieh mit frischen Augen – ununterbrochen, da sich der Staub schon im nächsten Moment wieder angesammelt hat.“ (Osho)