Die Ausrichtung im Wald-Yoga
Artikel in der Yoga Aktuell Nr. 121 -02 / 2020, von R. Angermeier
Alignment oder Ausrichtung ist ein zentrales Thema in der Unterrichtspraxis moderner Yogastile. Dabei gibt es gerade hinsichtlich der Ausrichtung wiederum unterschiedliche Ausrichtungen. Oft wird Ausrichtung nur als äußere Ausrichtung beschrieben, indem zum Beispiel Haltungen sehr genau von außen, also durch einen Yogalehrer, korrigiert werden.
Noch spannender, wie ich meine, ist dabei unsere „innere Ausrichtung“, wenn wir Yoga praktizieren. Diese innere Ausrichtung ist es, die unseren Techniken und Methoden mit der ihr eigenen Achtsamkeit und Präsenz die entscheidende Würze gibt. Der Fokus liegt nun mehr auf dem „Wie“, als auf dem, „was“ wir tun.
Besonders pikant wird es darüber hinaus, wenn wir unsere Yogapraxis wieder mehr in die Natur verlagern und wieder lernen, uns als natürliche Wesen in die uns umgebende sinnliche Natur einzuschwingen.
Im Wald-Yoga gehen wir an die Wurzeln des Yoga und in dessen Essenz geht es um Verbundenheit.
Der in den USA bekannte und renommierte Tiefenökologe David Abram stellt eine radikale These auf: „Menschen sind wir erst im Kontakt und im lebendigen Miteinander mit dem, was nicht Mensch ist.“ 1)
Wer kann das, in dieser Zeit, in der wir überwiegend in Städten leben und arbeiten, dabei Stress geplagt von einem Termin zum nächsten hetzen, offen und ehrlich von sich behaupten? Wäre es da nicht folgerichtig, wenn wir die Methoden des Yoga nutzen, um uns des lebendigen Miteinanders wieder gewahr zu werden? Damit wir uns tatsächlich verbunden fühlen mit allem, was beseelt ist, um schließlich auch ein lebendiges Miteinander mit dem, was menschlich ist, zu kultivieren. Könnte das nicht auch das ein oder andere menschengemachte Problem lösen?
Der große Türöffner hierzu ist das Yogasutra. Wenn wir es eingehend studieren, dann finden wir bei Patanjali zahlreiche Hinweise, wie wir diese Verbundenheit wieder in unserem Leben erschließen können.
Tapah-svadhyaha-Ishvarapranidhanani kriya-yogah (2.1)
Patanjali verbindet hier die drei letzten Niyamas und frei übersetzt bedeutet das:
Glühend (tapah) erkenne und ergründe dich selbst (svadhyaha) und spüre / übe (kriya) die Verbundenheit (yogah) mit der göttlichen Natur (Ishvara – pranidhanani).
Der Yogaweg führt uns nach innen, wenn wir unser innerstes Sein leidenschaftlich erkennen und dann folgerichtig wieder mit dem Leben im Einklang sind. Für mich ist das erste Sutra im 2. Buch von Patanjali ein Schlüsselsatz und Kriya-Yoga ist keine eigenständige Yogaform, wie es manchmal beschrieben wird, sondern es ist Patanjalis Aufforderung die Verbundenheit zu üben. Und demnach sind die Niyamas – genauso natürlich wie die Yamas - keine moralischen Fingerzeige, sondern Hinweise für unsere Ausrichtung im Yoga.
David Abram stellt in seinem Zitat unsere anthropozentrische Denkweise ganz frei heraus in Frage. In erster Linie richten wir Menschen uns heutzutage auf uns selbst bzw. das, was wir zu sein glauben und auf andere Menschen und deren so genannte Kultur aus. Dass dies für das Leben oft nicht so förderlich ist, können wir unschwer am Zustand unserer Mutter Erde erkennen. Indigene Kulturen und Menschen, die noch in einem natürlichen Umfeld, wie dem Wald leben, richten sich dagegen mehrheitlich auf die gesamte Schöpfung aus. Wenn wir lernen, uns ebenso wieder mehr auf das auszurichten, was nicht Mensch ist, haben wir die Möglichkeit, Vieles, was uns mittlerweile in unserer menschlichen Kultur zur Last geworden ist, zu heilen. In dieser Erinnerung, in der wir uns mehr und mehr als Teil des des Großen Ganzen wiedererkennen, haben wir die Chance, wahrhaft menschlich zu werden.
Wenn wir in den Wald gehen und dabei den Wald nicht einfach nur „konsumieren“ (das wäre nämlich wieder eine eindimensionale anthropozentrische Ausrichtung), erleben wir in allem die Verbundenheit: Kein Baum existiert für sich alleine. Sie alle sind u.a. über ein unterirdisches Pilzgeflecht miteinander verbunden. Bäume, Pilze und Mikroorganismen nähren sich gegenseitig. Die Bäume kommunizieren miteinander und tauschen sich zum Beispiel über so Dinge wie Schädlingsbefall und Trockenheit aus. Wenn ein Baum erwachsen geworden ist, versorgt er seine Schösslinge zu seinen Wurzeln, bis er das Zeitliche segnet. In der Natur gibt es im Unterschied zur menschlichen Kultur kein exponentielles Wachstum. Geburt, Sterben und wiedergeboren Werden ist der große Kreislauf, das große Rad (Samsara) in das unser Leben in der Form, in unseren irdischen Körpern, eingebunden ist.
Im Wald-Yoga richten wir unsere Körper aus und wir nehmen im Einklang mit und in der Natur eine Haltung ein, wir sind in einer Asana.
Patanjali formulierte in seinem Yogasutra drei klare Sätze, wie wir uns in einer Asana ausrichten:
Sthira-sukham asanam (2.46)
Sthira bedeutet stabil, kraftvoll oder still. Sukham steht für leicht und fein. Beide zusammengenommen sind für Patanjali die Grundlage für eine Ausrichtung in einer Asana. Wir finden darin das männliche Prinzip, in der stabilen, kraftvollen Haltung und die weibliche Polarität in dieser feinen, bewussten Einstellung. Der männliche Pol führt uns mehr in die Tiefe, veredelt die Haltung, während der weibliche Aspekt die Asana in der Breite und Weite intensiviert. Das Yin und Yang im Yoga. Wir haben jedoch im Yoga einen eigenen Terminus hierfür: Ha-Tha. Ha - Sonne (männliche Kraft) und Tha – Mond (weibliches Bewusstsein) in steter Balance, Homöostase und Verbundenheit (Yoga).
Prayatna-shaithilya-anantya-samapattibhyam (2.47)
Hier konkretisiert Patanjali weiter das letzte Sutra:
Indem wir die äußere Aktivität (prayatna) loslassen (shaithilya), erkennen wir die Unvergänglichkeit in allen Dingen (anantya) - also die Essenz, die hinter dem Leben steht - und kehren zu unserem Ursprung zurück (samapattibhyam). Dieser Ursprung ist das, was uns zu mitfühlenden Wesen macht. Eine Asana entspricht demnach dem Eintauchen in die Präsenz, in der sich dir die Schöpfung offenbart und in der du dich in deiner Ursprünglichkeit als Mensch, eingebunden in die Natur, erkennst.
Tatah-dvandva-anabhighatah (2.48)
Dann (tatah) kommen die Gegensätze (dvandva) zum Stillstand (anabhighatah).
Mit anderen Worten: Du bist weder über-erregt, noch schlaff. In deinen Muskeln heben sich Hypertonus und Hypotonus auf. Die Dualität – ich hier und alles andere dort - löst sich auf und dein Erleben der Natur ist dann weit mehr als die Summe ihrer Einzelteile. Vom Gefühl her bist du weder innen noch außen. Du fühlst dich kraftvoll, energiegeladen und vollkommen bewusst und anwesend. Die vermeintliche Trennung von der Natur ist nun mehr Illusion als Wirklichkeit.
In einer natürlichen Umgebung, wie dem Wald, kannst du die Präsenz des Lebendigen fühlen, die Vielfalt riechen, den Frieden hören und die Verbundenheit in allem und jedem sehen.
Im Wald hat unsere Sinneswahrnehmung einen vollkommen anderen Stellenwert, als in einer Yoga-Praxis in geschlossenen Räumen. Wenn wir Patanjalis Pfad der Weisheit weiter folgen, dann machen wir über kurz oder lang mit Pratyahara Bekanntschaft. Übersetzt wird dies gerne mit Rückzug der Sinne. Mir gefällt die Übersetzung Meisterschaft über die Sinne bzw. Urwahrnehmung eindeutig besser. Denn es geht nicht darum, die Sinne in deinem Bewusstsein „zurückzunehmen“ sondern eine freie und unmittelbare Sicht auf die Wirklichkeit zu erlangen und diese über die Sinne unverfälscht wahrzunehmen. Es ist also eher so, als ob sich deine Sinne in der feineren Yogapraxis veredeln. Wenn du deinen Körper in einer Asana still und fein fühlst, lässt der Sog deiner Gedanken nach; du kommst zur Ruhe und dein Atemrhythmus wird ganz fein und unmittelbar. Ein harmonischer Sog (Sama - Vritti) führt dich nun weiter in die Tiefe. Doch diese innere Harmonie ist in ein schmaler Grat, auf dem du dich bewegst: Eine Unachtsamkeit, das Aufsteigen eines kritischen Gedankens oder eine vermeintliche Störung von Außen können dich ebenso schnell wieder in die Unbewusstheit katapultieren. Du erkennst dies an Bewegungsunruhe, Unruhe in deinem Geist, an dem Sog deiner Gedanken, die dich an einen anderen Ort, als die Gegenwärtigkeit ziehen, dass deine Atmung nicht mehr im Fluss ist, oder etwa, wenn du in der Meditation einschläfst.
Unsere vermeintliche Trennung von der Natur sitzt tief und ist praktisch in jeder Lebenslange vordergründig. Darüber, wie wir die Welt mit unseren Sinnen wahrnehmen, sorgen wir entweder dafür, die Trennung aufrechtzuerhalten, sie gar zu rechtfertigen oder die Trennung zu lösen und die Verbundenheit zu kultivieren. Dem ganzheitlichen Verständnis von Pratyahara kommt in unserer Wald-Yogapraxis also eine Schlüsselrolle zu. Dazu versuchst du, in einer feinen, stillen Ausrichtung erst einmal die Trennung in deiner Sinneswahrnehmung zu lösen. Wenn wir in die Präsenz des Waldes eintauchen, sind wir stets fühlend anwesend. Genauso können wir fühlend sehen und hören. Deine Riechzellen können viele tausend verschieden Gerüche wahrnehmen. Die Geruchswahrnehmung ist zudem dein ältester und ursprünglichster Sinn. Eng verbunden mit deinem Geruchssinn ist dein Geschmack. Fühlen, riechen und schmecken sind sehr „körperliche“ Sinne, wo-hingehend die Sinne Sehen und Hören weitaus „feinstofflicher“ sind und den Zugang zu deinem Unterbewusstsein markieren.
Atha yoga-anushasanam (1.1)
In der Kraft des Augenblicks – jetzt – (atha) ist diese Verbundenheit (Yoga) körperlich spürbar (anushasanam).
Deine innere Ausrichtung bringt sich in der Kraft des Augenblicks in deiner Körperhaltung zum Ausdruck, führt also gleichzeitig zu deiner äußeren Ausrichtung. Dein Brustkorb öffnet sich, du richtest dich auf. Dein körperlicher Ausdruck ist jetzt ein natürlicher Ausdruck, sehr unmittelbar und wahrhaftig, jenseits von den Masken und stereotypen Verhaltensmustern, die du dir beim unbewussten Abschauen von deinen Mitmenschen zugelegt hast. Du erkennst in dieser Wahrhaftigkeit die Schönheit in allem Lebendigen. Es stellt sich in dir ein natürlicher Stolz ein – keiner, der überhöht und sich wichtig macht – sondern einer, der sich nun nicht mehr zu verstecken braucht. Du bist im Lebensfluss und kannst dich frei und kreativ ausdrücken. Noch mehr - es ist dir in deiner Lebendigkeit ein Anliegen, dich gestalterisch zu entfalten. Der Resonanzboden für deine Leidenschaft ist immer dein Körper: In deiner Magengrube kannst du deine Lebendigkeit als Hitze fühlen. Diese breitet sich in der Öffnung deines Brustkorbs bis in dein Herz aus und es fühlt sich dort warm und weich an. Dein Kopf bleibt dagegen stets kühl und klar. Du kannst diese Kühle auch in deiner Atmung spüren: In deinen Nasenflügeln und in deiner Lunge. Die Atmung ist unbeschwert, frisch und frei.
Dein Atemzyklus führt dich in ein stetes Sterben (Ausatmen und versiegen lassen) und Wiedergeboren werden (Einatmen). In dem Moment, in dem etwas geboren wird, ist bereits klar, dass es früher oder später sterben wird. Das ist ein Naturgesetz. Im Yoga werden diese Gesetzmäßigkeiten in den Yamas (Sterben) und Niyamas (Wiedergeburt) ausgedrückt.
In einem sinnlichen Zustand der Verbundenheit beschreiben die Yamas und Niyamas eine natürliche, selbstverständliche Ordnung der Welt:
Ahimsa:
Das Leben bedroht dich nicht. Die Welt hat nichts gegen dich. Die Natur ist dein Freund – Kannst du das spüren?
Satya:
Durchschaue das Spiel des Lebens. Die Bilder und Konzepte in deinem Kopf sind menschengemacht und haben mit der Wirklichkeit nichts zu tun – Kannst du diese Wahrhaftigkeit wahrnehmen?
Asteya:
Es ist bereits alles da. Leben ist Fülle, Leben ist Schönheit – Kannst du das sehen?
Brahmacharya:
Die göttliche Quelle ist der Ursprung für die Kraft, die dich ergreift, die dich erhebt und die dich trägt – Kannst du die Quelle in dir fühlen?
Aparigraha:
Loslassen, Abgeben, Eintauchen – Kannst du im Fluss des Lebens schwimmen?
Shaucha:
Alles fällt ab, was nicht du bist – Kannst du das mit reinem Herzen fühlen?
Santosha:
Diese Wachheit für alles, was ist, ist der Schlüssel um dich in deinem Wesenskern zu erfahren – Kannst du diesen Frieden spüren?
Tapas:
Die Lust, die Leidenschaft, deine Lebensfreude ist die Kraft, die die Trennung überwindet – Kannst du die Kraft in dir wahrnehmen?
Svadhyaya:
Dein Leben ist nichts anderes, als die Reflexion deines Bewusstseins – Kannst du dich im Spiegel der Natur selbst erkennen?
Ishvara-pranidhana:
Du bist weit mehr als dieser physische Körper. Jenseits der Form existiert noch etwas grenzenloses, göttliches Essentielles - Kannst du das in deinem meditativen Gewahrsein erahnen?
1 Abram, David: Im Bann der sinnlichen Natur / Die Kunst der Wahrnehmung und die mehr-als-menschliche Welt, Think Oya / Drachen Verlag, 2012, S. 44